A House Made of Splinters: wie zwei Erzieherinnen den Kindern beibringen, zu leben, und nicht zu überleben

„Kolja läuft oft von Zuhase weg. Er streift durch die Straßen, während seine Mutter und Stiefvater saufen. Die Polizei erwischte ihn zusammen mit seinen jüngeren Bruder und Schwester, als sie eine Müllhalde durchwühlten, um etwas zu finden, was sie verkaufen können“. Das hören die Zuschauer, die zu der Premiere des Films „The House Made of Splinters“ in Warschau kamen.

Das ist ein Film über zwei Erzieherinnen im Kinderheim, das offiziell „Zentrum der sozialpsychologischen Hilfe in Lysytschansk“ heißt. Dort kommen die Kinder hin, wenn die Familien durch Alkoholismus oder Missbrauch zerstört werden und die Kinder als Folge davon ihr Zuhause verlieren. Viele Menschen im Saal können ihre Tränen nicht zurückhalten, während die Geschichten der Kinder sich vor ihnen abspielen.

„Deine Mutter hat dich vergessen“.

„Nein, sie hat sich vergessen. Und ich vergesse sie manchmal, und manchmal erinnere ich mich an sie“.

Unter der Zuschauer sind zwei Frauen aus der Ukraine. Sie sehen diesen Film nicht zum ersten Mal, für sie dauert er seit September 1998. Damals wurde das Heim eröffnet, und Margarita Burluzka und Olga Tronowa wurden die Erzieherinnen für die Kinder, deren Seelen durch das Leben mit den Eltern verletzt waren.

Margarita Burlutska und Olga Tronova mit dem Regisseur Simon Lehren Wilmont

„Als ich den Film angeschaut habe, hatte ich das Gefühl,  als ob ich wieder zu Hause wäre. Ob es irgendwann wieder so sein wird wie früher, weiß ich nicht. Aber dieser Film hielt es in der Realität fest, die wir verlassen mussten“, erzählt Olga Tronowa, die Erzieherin des Zentrums der sozialpsychologischen Rehabilitation für Kinder in Lysytschansk.

Zusammen mit ihrer Kollegin Margarita Burluzka entkamen sie für einen Tag der Realität, in der sie seit dem 24. Februar leben, und gingen paar Jahre zurück nach Lysytschansk, wo der Krieg wie ein dumpfer Donner hallte, der nicht mehr beachtet wurde. Zumindest so haben sie es bei der Filmpremiere in Warschau empfunden.

Das Leben hier war schon immer kompliziert…

Ende der 90-er sah Lysytschansk immer mehr nach einer depressiven Stadt. Viele Industriebetriebe haben zugemacht, Menschen verloren die Arbeit. Es herrschten Zerfall und Chaos, die, wie Olga erzählt, immer besser kontrolliert wurden. Viele Familien passen sich den neuen Bedingungen an, Menschen fanden die Arbeit in staatlichen Einrichtungen oder suchten sich Verdienst außerhalb. „Aber viele Familien hielten dieses Durcheinander nicht aus, das war vielleicht der Grund, warum sie mit dem Trinken anfingen. Wegen der Aussichtslosigkeit“, sagt Margarita, Erzieherin-Methodikerin.

„Damals gab es in der Stadt viele obdachlose Kinder. Eltern hatten keine Arbeit, und die Kinder lebten auf Mülldeponien und in der Kanalisation. Die Eröffnung von solchem Heim war wirklich notwendig“, erinnert sich Olga.

Die beiden Erzieherinnen arbeiten im Heim seit seiner Eröffnung. Margarita verbrachte immer schon sehr gerne Zeit mit Kindern, seit ihrer Kindheit wusste sie, dass sie die Arbeit als Erzieherin fasziniert. Darum nahm sie die Arbeitseinladung gerne an. Olga arbeitete zu der Zeit schon zehn Jahre als Grundschullehrerin. Sie entschied sich für die Arbeit im Heim, weil das eine Herausforderung war, etwas ganz Neues und Aufregendes.

„Unser ganzes Team lebte für dieses Projekt, für seine Eröffnung“, erinnert sich Olga.

Foto vom Drehvorgang

Als sie diese Kinder auf der Straße sah, sie standen oft unter Drogeneinfluss, fragte sie sich, ob sie so ein Kind je lieben könnte. Denn ohne Liebe hat solche Arbeit keinen Sinn. „Aber, nachdem unser Heim eröffnet wurde, hatte ich nie mehr diese Zweifel. Man musste nicht mal lernen zu lieben, das Gefühl der Verbundenheit kam sofort, die Kinder schenkten diese Liebe selber“, sagt sie.

Das Zentrum der sozialpsychologischen Rehabilitation in Lysytschansk ist eine soziale Einrichtung, zu der die Kinder im Alter zwischen 3 und 18 Jahren kommen, die in eine schwere Lebenssituation geraten sind. Meistens werden sie von einem Sozialarbeiter gebracht, aber es gibt auch persönliche Anfragen von Kindern.

Während über ihr Schicksal entschieden wird, kümmert sich ein Psychologe um sie, die Erzieher sorgen dafür, dass die Älteren zur Schule gehen, und für die Kleinen wird ein Kindergarten im Heim organisiert. Mit anderen Worten, bekommen die Kinder psychologische, soziale und juristische Hilfe.

Dieser begrenzte Zeitraum ist vor allem für die Eltern eine Chance. Wenn es ihnen gelingt, ihre Alkohol- oder Drogensucht zu überwinden, kommen die Kinder zurück in die Familie. Wenn nicht – wird den Eltern das Sorgerecht entzogen. „Aber in letzter Zeit kommen nur wenige Kinder wieder in die Familien, die Eltern wollen sich nicht anstrengen“, teilt Margarita ihre Beobachtungen.

Danach kommen Kinder entweder in eine Pflegefamilie oder in ein Familienkinderheim oder in ein Internat.

„Jedes Kind kommt mit eigenem Leiden, aber es wird sofort ein Teil von unserer Familie, denn wir haben ein sehr gutes Team. Es kommt vor, dass ein Kind mit vier Jahren schon mehr schlimme Sachen sah als ein Erwachsener. Kinder kommen zu uns aus den Familien, wo sie nicht lebten, sondern überlebten“, erzählt Margarita.

Olga erinnert sich an ein Mädchen, das einmal zu ihnen ins Heim kam. Als sie zum ersten Mal mit ihm redete, sagte sie:

„Mach dir keine Sorgen, wie reparieren alle Löcher in deinem Herzen“.

„Ich habe da ein riesiges Loch“, antwortete das Mädchen, während es die Hand auf seinem Herzen hielt.

„Wir wissen nicht mal genau, was sie erlebt haben, können ihren Schmerz wahrscheinlich nicht voll nachempfinden. Kleine Kinder, zum Beispiel, können gar nicht erzählen, was sie ertragen mussten, wir können es nur ahnen“, sagt Olga.

Gleichzeitig sammeln die Heimmitarbeiter immer so viel Information wie möglich über die Gründe, warum ein Kind in solche schwierige Lebenslage geraten ist. Es kommt auch vor, dass Kinder fliehen, aber das hängt damit zusammen, dass Kinder es gewohnt sind, „frei zu leben“, erklärt Olga, denn es ist ein Ganztagsheim. Es ist für maximal 30 Kinder ausgelegt. Mit ihnen arbeiten zwei Psychologen, ein Musiklehrer und fünf Erzieher.

„Menschen arbeiten lange bei uns, es ist so ein Ort, der dich in seinen Bann zieht. Sehr oft tragen wir unsere Arbeit auch nach außen, wir denken an diese Kinder oder sprechen über die Arbeit, auch wenn wir schon Feierabend haben. Ein Mensch ohne Liebe und Seele kann dort nicht arbeiten“, meint Olga.

Margarita ist mit ihr einverstanden: „Wenn man zur Arbeit kommt und ihre Lächeln sieht, sie treffen und umarmen dich. Natürlich sind sie ab und zu auch ungezogen, wie alle Kinder. Aber man hat das Gefühl, dass man mit diesem Beruf, dem man fast ein halbes Leben gewidmet hat, schon fest vewachsen ist“.

…aber der Krieg machte alles noch schlimmer

„Nicht alle Eltern konnten den Kriegsbeginn im Jahr 2014 überleben“, sagt Margarita.

Damals tauchten in Lysytschansk viele Kinder auf, die nicht nur eine schwierige Familiensituation hatten, sondern auch erfuhren, was ein Krieg bedeutet. Gleichzeitig brachte der Krieg noch mehr Probleme in die Stadt, die ihren „depressiven“ Status nicht ablegen konnte. Die Zahl der Kinder, die durch das Heim gingen, stieg.

Im Jahr 2014 war Lysytschansk fast zwei Monate unter Besatzung durch Terrororganisation LNR. Damals wurden die Kinder nach Charkiw in ein ähnliches Heim gebracht. Sie waren also nicht in der Stadt,  als dort aktive Kriegshandlungen stattfanden. Olga und Margarita kehrten nach Lysytschansk zurück, und das Heim wurde zu einer Unterkunft. In der Stadt selbst gab es kein Wasser und keinen Strom, die Verbindung war schlecht. Als die Stadt befreit wurde, freuten sich die Menschen gemeinsam zum ersten Mal seit vielen Jahren. „Das kann man nicht mit Worten beschreiben. Wir haben versucht zu erfahren, ob unsere Bekannten am Leben sind, haben uns über die anderen erkundigt. Und überhaupt, nach 2014 sind die Menschen freundlicher geworden“, erinnert sich Margarita an damals. Die Kinder kamen bald zurück von Charkiw nach Lysytschansk.

Und so lebten sie bis 24. Februar 2022, in unmittelbarer Nähe zum Krieg. „Wahrscheinlich gewöhnt man sich an alles. Wir hörten die Explosionen, aber sie waren weit weg; wir wussten, dass der Krieg in der Nähe ist, beachteten das aber nicht, wenn es weit knallte. Wir gewöhnten uns an das ‚friedliche‘ Leben“, sagte Olga.

The House Made of Splinters

Margarita hatte einen Kalender zu Hause, in den sie alle wichtigen Ereignisse eintrug. Dort vermerkte sie auch den Tag, an dem das Drehteam vom Dokumentarfilm „The House Made of Splinters“ zum ersten Mal ins Heim kam. Das war der 5. April 2019.

„Zu uns kommen oft Korrespondente. Ich dachte, dass sie kommen, ihren Beitrag drehen, und damit wird unsere Mitarbeit beendet“, erinnert sich Margarita.

Aber das Drehteam blieb für zweieinhalb Jahre im Heim. „Wir warteten jedes Mal auf sie. Kinder warteten, wir warteten. Die Unterhaltung mit ihnen machte uns große Freude. Schließlich wurden sie ein Teil unserer Familie“, sagt Margarita.

Als der dänische Regisseur Simon Lereng Vilmont und der Produzent und Journalist Asad Safarow zum ersten Mal im Heim waren, wussten sie sofort, dass sie ihren Film genau hier drehen wollen. Sie kamen dorthin dank der Menschenrechtlerin Olena Roswadowska, die dem Drehteam in den nächsten Jahren half, ethisch und ohne den Kindern zu schaden, ihr Leben zu dokumentieren. Damals beeindruckte das Heim Simon, Asad und Olena durch seine heimische Atmosphäre. Das unterscheidete sich sehr von kalten und sterilen Wänden, die sie vorher in den anderen Einrichtungen sahen.

Simon Lereng Wilmont und Olena Rozwadowska

Zuerst spürten die Erzieherinnen die Anwesenheit von Kamera, das brachte sie in Verlegenheit. Aber später beachteten sie die Kamera nicht mehr, vergaßen, dass sie existiert.

„Wir gaben dem dänischen Regisseur Simon (Lereng Vilmont – Red.) die Möglichkeit so zu arbeiten, wie er das in seinem Film sehen möchte. Wir gaben ihm die Gelegenheit, in unsere Umgebung einzutauchen, damit er selber die Akzente in diesem schwierigen Thema setzt“, sagt Olga.

Sie wussten, dass Kinderseelen verletzt sind. Aber es hatte keinen Sinn, darüber zu reden, denn alles wurde in den Augen des Kindes widerspiegelt.

„Das ist ein großes Unglück für das ganze Land und für unsere Region. Dass die Kinder in solche Umstände gerieten, wo sie nicht leben, sondern überleben mussten. Sie tragen diese Last vom früheren Leben bei den Eltern mit sich . Aber wir denken nicht ständig an dieses Leiden, wir versuchen, es mit Wärme unsres Verhaltens zu ersetzen, darum scheuen wir Umarmungen und warmen Umgang nicht. Ich glaube, dass das richtig ist“, sagt Olga.

Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Man kann sich an dieses Leid nicht gewöhnen. Ja, das ist ein Job, aber ein solcher Job, in den wir viel Herzblut stecken“.

Ausschnitt aus dem Film

Zum ersten Mal sahen Olga und Margarita den Film im Jahr 2021 bei einer Kammerpremiere in Sewerodonezk. Sie waren sehr aufgeregt, das war das erste Mal, dass sie an so langen Dreharbeiten teilnahmen. Sie hatten Angst und waren gleichzeitig neugierig zu erfahren, wie der Regisseur ihr Leben von der Seite sieht. Sie fassten sich an den Händen und schauten den Dokumentarstreifen mit angehaltenem Atem an. Auf der Leinwand spielten sich die Geschichten der Kinder ab, die sie sehr gut kannten.

„Wir kennen den Schmerz von jedem Kind, wir lassen ihn durch uns».

«Nach der Vorführung hatte ich wieder dieses Gefühl – Wut auf die Eltern. Es ist schwer zu verstehen, warum sie sich gegenüber eigenen Kindern so verhalten. Schwierig, wenn die Mama dem Kind am Telefon verspricht, dass sie kommt. Schwierig und schmerthaft ist, zuzusehen, wie das Kind auf Mama wartet, und sie nicht kommt. Das ist vielleicht das Leid der ganzen Ukraine, dass wir solche Familien haben“, sagt Margarita, eher traurig als wütend.

Premiere des Films in Severodonetsk

Olga pflichtet ihr bei: „Und jetzt, nach dem 24. Februar, wird dieses Problem noch größer, es wird noch mehr Kinder mit zerstörter Psyche geben“.

Nach dem 24. Februar

Dieser Tag bedeutete für das Heim dringende Evakuierung. Aber diesmal wesentlich weiter nach Westen, weit von Charkiw. „2014 hatten wir Angst, aber die ist nicht mit dem zu vergleichen, was jetzt passiert. Im Vergleich hat man das Gefühl, damals war gar nichts“, sagt Olga.

Kurz zuvor wurde das Heim renoviert, für viele Kinder sind seine Wände heimisch geworden. Keins von ihnen wollte weggehen und sich an einen neuen Ort gewöhnen. Schon wieder.

Margarita war zu dem Zeitpunkt im Urlaub, sie fuhr dann mit der Familie in die Westukraine. Und Olga begleitete die Kinder, die in die Busse gebracht wurden, zu ihrem neuen Zuhause. „Wir verstanden nicht, was passiert,  aber hofften, dass wir bald zurückkommen“, sagt sie.

Derzeit befinden sich die Kinder in einem anderen Heim, wohin auch die Kinder aus ähnlichen Zentren in anderen Hotspots der Ukraine gebracht wurden. „Elten von diesen Kindern sind zu Hause geblieben und trinken weiter“, sagt Olga.

Kinder fangen an, sich kennenzulernen und zu kontaktieren, wollen aber trotzdem nach Hause. Wenn Olga sie ins Bett bringt, lautet jeden Abend dieselbe Frage: „Wann fahren wir nach Hause?“ Es ist schwer für sie, eine Antwort zu geben, weil sie die nicht kennt.

Premiere

Erste echte „offizielle“ Premiere von „The House of Splinters“ musste für Margarita und Olga die Vorführung auf dem Festival der Dokumentarfilme Docudays werden, das wegen des Krieges verschoben wurde. Darum konnten sie die letzte Filmfassung erst im Ausland sehen. Und Olga gesteht, dass sie dieses Mal den Film mit anderen Augen sah. Erzieherinnen freuten sich, dass ausländisches Publikum sich für „The House Made of Splinters“ sehr interessierte, man stellte ihnen viele Fragen und teilte die Eindrücke.

Vorführung des Films beim Festival in Warschau

„Aber ich hatte gar nicht das Gefühl, dass ich mich mit Ausländern unterhalte, das war ein Gespräch unter Gleichgesinnten“, sagte Olga. Für beide Erzieherinnen war es interessant, die Geschichte, die mit ihren Leben so verwurzelt ist, von der Seite anzuschauen. Letztendlich betonen sie aber, dass das Wichtigste an allem der Drehprozess und die enstandene Atmosphäre des Vertrauens mit dem Drehteam waren.

Und der Film selber wurde für sie keine Flucht vom Alltag, sondern eine Erinnerung, dass trotz Schmerz und Leiden in diesem Alltag immer die Liebe gewinnt.

„Ich habe zum wiederholten Mal verstanden, dass man die Seele des Kindes heilen muss, wenn sie verletzt ist. Und das erzeugt noch größeren Wunsch, ihr zu helfen, sich noch mehr anzustrengen, um sie zu verstehen. Man muss noch mehr Wärme geben, damit diese Wunden heilen“, sagt Olga.

Auskunft:

Während der Dreharbeiten freundete sich das Drehteam nicht nur mit Erziehern der Einrichtung, sondern auch mit Kindern an. Mit dem Wunsch, ihnen zu helfen, entstand die Idee der Stiftung „Stimmen der Kinder“, die Olena Roswadowska und Asad Safarow gemeinsam gründeten.